Travellerblut und Tanzbein – das hatten wir gemeinsam, als Silvio und ich uns 2017 in Zürich kennenlernten. Auch die Affinität zum Zweirad teilten wir: Silvio blickt auf 30 Jahre Motorrad-Reisen zurück. Ich auf 20 Jahre in der Fahrradbranche und zehn Jahre Abenteuer-Touren mit dem E-Bike. Alle Kontinente mit dem Fahrrad zu bereisen – das war mein Traum. Eine Weltreise? Auf diesen Plan konnten wir uns schnell einigen. Aber mit dem Pedelec? Für das Vehikel brauchten wir einen „Kompromiss“.
Und der wiegt bescheidene 6,5 Tonnen. Ein Fuso Canter, von der Firma Woelcke als geländegängiges Expeditionsmobil aufgebaut, sollte von nun an unser Zuhause und Office, unsere Werkstatt und Solarladestation werden. Nach einem intensiven Jahr der Bau- und Vorbereitungsphase brachen wir im Winter 2019/2020 nach Marokko auf, um den Truck, die fabrikneuen Pedelecs der Firma HNF Nicolai und unser gesamtes Reise-Setup zu testen.
Dünensurfen in Marokko
Auch unsere Offroad-Skills (und unsere Nerven) durchliefen beim Dünensurfen in der Wüste eine Bewährungsprobe. Ein würdiger Moment, um unseren Overlander mit Sahara-Sand auf den Namen „Elefantino“ zu taufen. Überhaupt ließ Marokko unsere Herzen höher schlagen. Im Januar und Februar fanden wir traumhafte Bedingungen vor: stabiles, warmes Wetter, gute, leere Straßen und eine landschaftliche Vielfalt, die ihresgleichen sucht. Schneebedeckte Gipfel im Atlasgebirge, dramatische Canyons und weitläufige Wüstengebiete. Dazu historische Städte, bunte Märkte, herrliches Essen und aufgeschlossene Menschen.
Am südlichsten Punkt unserer Tour, bei Icht nahe der algerischen Grenze, bogen wir nach Nordwesten ab zu den bunt bemalten Felsen von Tafraout. Von dort zog es uns über szenische Bergstrecken an den Atlantik in die bunte Fischerstadt Essaouira. Auf der Hinfahrt nach Marokko waren wir bis Tarifa in Südspanien auf dem Landweg gefahren. Diesmal nahmen wir die Fähre von Tanger bis nach Genua. Zwei Tage und zwei Nächte dauerte die Überfahrt.
Inzwischen war es Mitte Februar. Ein Stopp in Norditalien ließ uns nichts von all dem ahnen, was kurz darauf als Schreckensnachrichten die Schlagzeilen füllte. Für uns stand als nächstes die Tourismusmesse ITB in Berlin auf dem Plan. Als diese drei Tage zuvor abgesagt wurde, war klar: Hier ist etwas Größeres im Busch. Silvio machte kehrt Richtung Schweiz, ich war noch in Berlin, da gingen die Grenzen zu. Uns blieben nur wenige Stunden. Kurz entschlossen ließ ich in Berlin alles stehen und liegen, sprang in den Zug, wir trafen uns in Stuttgart und schafften es gerade so auf die Schwäbische Alb.
Quarantäne auf 10 Quadratmetern
Hier blieb unsere Weltreise jäh im Corona-Lockdown stecken. Für ungeahnte 69 Tage verwandelten wir unser gerade erst begonnenes, mobiles Leben in stationäre Quarantäne auf knapp zehn Quadratmetern. Statt im wuseligen Messegeschehen unser Projekt E-Traction – The Trip zu lancieren, beschäftigten wir uns im Mehrstettener Homeoffice mit der Maskierung der Menschheit und der Demaskierung der Defizite in unseren Gesellschaftssystemen. Wir hielten inne, stellten Pläne auf den Prüfstand und trafen Entscheidungen…
Mit Pedelec und Expeditionsmobil durch Frankreich und Spanien
Diese führten uns im September 2020 in die menschenleere Innenstadt von Paris, wo der Eiffelturm den Start einer neuen Reiseetappe markierte. Vor uns lagen Frankreich, Spanien, Portugal und nicht zuletzt Afrika – einst greifbar nahe, jetzt nur noch als schwammiges Ziel in einer diffusen Zukunft, geprägt von der vagen Gewissheit einer zweiten Welle. Mit Plan A, B und C gerüstet, reisten wir von Paris Richtung Spanien.
Ich radelte die 1.200 Kilometer durch Frankreich bis über die Pyrenäen, Silvio fuhr Elefantino. Ein prima Reise-Setting wie wir finden, denn es gewährte uns beiden Privatsphäre und Autonomie. Oft fuhren wir unterschiedliche Routen, vereinbarten einen Treffpunkt, freuten uns aufeinander und hatten uns abends eine Menge zu erzählen.
Herrliche Tage entlang den Ufern der Loire genossen wir noch bei sonnigen 35 Grad, bevor sich der Sommer in der Auvergne abrupt verabschiedete. Sturm, Nebel und tagelanger Dauerregen verwehrten uns die Sicht auf die markante Vulkankrater-Landschaft der Auvergne und begleiteten uns bis zu den Pyrenäen. Vorausschauender Reiseplanung sei Dank erwischten wir ein Sonnenfenster für die Überquerung der Bergkette hinüber nach Spanien.
Im Baskenland mit seiner uralten, traditionell nicht-spanischen Identität beschlossen wir, saisonal etwas aufzuholen, und fuhren gemeinsam mit unserem Expeditionsmobil weiter. Fasziniert von der abwechslungsreichen, bergigen Landschaft Kantabriens folgten wir in Asturien der wild-romantischen Küstenlandschaft bis nach Galizien. Am nördlichsten Punkt der iberischen Halbinsel, dem Leuchtturm von Estaca de Bares, stieg ich wieder aufs Rad und freute mich auf Bewegung.
Wir zogen südwestlich durch das rau anmutende Galizien, kreuzten immer wieder den Jakobsweg, dem ich auf den letzten Kilometern bis nach Santiago de Compostela folgte. Hier endet der berühmte Pilgerweg vor der majestätischen Kathedrale im Herzen der zum UNESCO-Weltkulturerbe gekürten Altstadt. Junge Leute waren von weit her gewandert, meditierten oder saßen einfach da und ließen die imposante Kulisse auf sich wirken. Eine magische Stimmung.
Im Expeditionsmobil durch den bergigen Norden Portugals
Diesen Momenten voller Einkehr folgte eine Achterbahn durch Portugal. Damit ist nicht die Route gemeint. Die ging geradeaus, Richtung Süden. Zunächst. Es waren vielmehr die Ereignisse, die unsere Reise durch dieses faszinierend vielseitige Land zu einem Wechselbad der Gefühle machten. Wir passierten die spanisch-portugiesische Grenze: Keine Fragen, keine Formulare, kein Mensch. Obwohl sich inzwischen, Mitte Oktober, die Corona-Lage europaweit wieder verschärfte.
Die urigen Bergdörfer im Norden wirkten wie Geisterstädte. Wenn wir einmal Menschen zu Gesicht bekamen, trafen uns irritierte Blicke als wären wir Aliens. Die verstörende Totenstille in sonst belebten Ortschaften ging einher mit haarsträubenden Geboten, aber auch überraschenden Freizügigkeiten der Ordnungshüter. Jedenfalls jeden Tag anders. Dabei spielte Portugal seine landschaftlichen Reize ganz und gar aus. In unserer einsamen Zweisamkeit wirkten sie umso intensiver.
Der Norden beeindruckte uns mit seinen terrassierten Hängen und üppiger Vegetation. Ein Highlight war der Gebirgszug der Serra da Estrela. Hier testeten wir zum ersten Mal ein weiteres Reise-Setting: Elefantino blieb stehen und wir gingen gemeinsam auf Mountainbike-Tour. Dabei kam das vollgefederte Flaggschiff von HNF Nicolai, das XF3 Adventure, nicht nur als Reiserad sondern als Vollblut-Mountainbike zum Zuge. Spielend bewegten wir uns zwischen 1.000 und 2.000 Metern Höhe, bretterten auf gerölligen Gebirgstrails über Stock und Stein mit einer Leichtigkeit, wie sie nur in der DNA eines E-Fullys steckt.
Auf der Suche nach Leben
Abwechselnd, mal ich auf dem Rad, mal Silvio, kamen wir aus den Regionen Norte und Centro in die flacheren Gefilde des Alentejo. Korkeichen, Pinien und Eukalyptus säumten unseren Weg durch die sandige, ländliche Einsamkeit. Es wurde deutlich trockener, wärmer und ganzjahresgrün. Während wir dem Winter nun endgültig entronnen waren, ließen wir uns nach wochenlanger Abgeschiedenheit von der Sehnsucht nach Leben leiten. Auf den fast vergessenen Geschmack eines Cappuccinos mitten auf der Piazza brachte uns die historische Altstadt von Evora. Menschen! Leben! Offene Läden und Cafés … Was für ein Genuss!
Prompt endete in Evora unsere geradlinige Reiseroute. Wir bogen gen Westen ab zu einem Abstecher in die Stadt der sieben Hügel – Lissabon. Eine lohnenswerte Entscheidung? Absolut ja! Selbst im Corona-Ausnahmezustand. Bis sie uns zum Verhängnis wurde … An einem idyllischen Kap südlich der Stadt. Es war Wochenende, Ausgangssperre ab 13 Uhr. Stille. Wir ließen die Seele baumeln. Angekommen in unserem Leben als #HiTec-Hippies. Friede.
Und dann geschah der Super- GAU im Paradies. Unsere Bikes waren weg. Einfach weg. Wir hatten sie am Vorabend zusammen- und an den Truck angeschlossen, waren zum Sonnenuntergang kaum 200 Meter weit weggegangen. Am nächsten Morgen – der Schock. Wir waren Ziel eines dreisten, geplanten, organisierten Diebstahls geworden … Alles lief aus dem Ruder. Es vergingen Tage wie im Nebel, in denen wir versuchten, uns neu zu finden und zu organisieren. Zeitweise verkrochen wir uns in Elefantino wie in einem schützenden Kokon, während wir alles Erdenkliche unternahmen, um die Bikes zurückzubekommen. Doch unsere Versuche verliefen im Sande. Eines Tages kam immerhin eine sonst so treue Begleiterin zurück – die Lust am Reisen.
Und als ob wir es gesucht hätten, wartete schon das nächste Abenteuer. Die großartige Offroad-Strecke entlang Portugals südlicher Atlantikküste lockte uns wieder aus der Reserve. In Gesellschaft einer herzlichen Reisebekanntschaft folgten wir der imposanten Steilküste durch sandiges Terrain, duftende Wälder, buddelten uns unzählige Male wieder aus, schnitten uns Wege frei und brachten den Puls zum Überschlag, als Elefantino auf matschiger Piste mit dem Heck am Abhang stand – und abwärts rutschte. Marcios Seilwinde und Expertise waren unsere Rettung.Für alle Adrenalinjunkies ist die Strecke südlich von Sétubal bis zum exponiertesten Zipfel Portugals nahe Sabres ein Muss!
Sightseeing-Fans hingegen kommen in der Algarve mit ihren atemberaubenden Felsformationen auf ihre Kosten. Allerdings stellten wir fest, dass Camper entlang der Küste wohl nicht mehr gern gesehen sind. An den guten Parkbuchten waren Gräben gezogen, Steine platziert und Verbotsschilder aufgestellt, offensichtlich neueren Datums. Längst war die zweite Corona-Welle hereingerollt und wir passierten die Grenze nach Spanien, just bevor sie im Januar 2021 geschlossen wurde.
In der Nähe der Stadt Cádiz nisteten wir uns an einem herrlich gelegenen Parkplatz ein. Dieser war ebenso menschenleer wie der direkt angrenzende, kilometerlange Sandstrand. Lockdown könnte schlimmer sein! Die Polizei ließ uns gewähren und Einheimische begrüßten uns mit den Worten „Welcome to Spain“, Tortilla und Bier. Die Wochen vergingen. Die Ungewissheit blieb.
Kurzzeitige Gewissheit brachte ein Jobangebot aus der Schweiz: Silvio und Elefantino fuhren zurück nach Mitteleuropa. Ich beschloss, die Strecke von Andalusien nach Deutschland mit dem Fahrrad anzutreten. Die sechswöchige Reise sollte die Jungfernfahrt meines neuen Pedelecs werden, das im März von HNF Nicolai aus Deutschland eingetroffen war.
Solo vom Atlantik an den Rhein
Als ich im Mai 2021 am südlichsten Zipfel des spanischen Festlandes losfuhr, öffneten erste Cafés und Restaurants. Dabei blieb völlig unklar, wie sich die Corona-Lage im Laufe der Reise entwickeln würde. Also rüstete ich mich, um möglichst lange autark zu sein – mit vier Bike-Akkus, zwei Powerbanks, Campingausrüstung und Kocher. So brauchte ich nur jede zweite Nacht eine Steckdose. Und hatte Glück: vom Atlantik bis an den Rhein surfte ich auf der Lockdown-Öffnungswelle. Als eine der ersten Reisenden nach der Pandemie-Starre fühlte ich mich überall aufs Herzlichste willkommen.
Ich übernachtete meist auf Campingplätzen oder stellte mich beim Wild-Campen meinen Ängsten. So lange, bis ich genau diese Nächte lieben lernte und das Alleinsein in der Natur suchte. Meine Route plante ich von Tag zu Tag. Dabei folgte ich nicht der ausgewiesenen Fahrradroute an der Küste entlang, sondern meiner Intuition. Diese führte mich durch die Berge. Mit geschätzten 35 Kilogramm Gepäck wusste ich auf den kleinen, kaum befahrenen Bergstraßen durch traumhafte Landschaften meinen E-Antrieb besonders zu schätzen. Nach 46 Tagen (39 Fahr- und sieben Arbeitstagen), fast 3.500 Kilometern und 55.000 Höhenmetern erreichte ich mein Ziel in Lahnstein bei Koblenz. Ganz erfüllt von dieser wunderbaren (Selbst-)Erfahrung fiel ich Silvio nach drei Monaten wieder in die Arme.
Nordlichter und traumhaft schöne Landschaften in Norwegen
Ein kurzer Boxenstopp in Berlin und unsere gemeinsame Overlander Reise ging weiter, diesmal in den Norden. Mit Elefantino erkundeten wir die äußersten Zipfel der norwegischen Polarregion, wo uns tagsüber strahlend blauer Himmel und nachts immerwährende Helligkeit begeisterten.
Die magischen Stunden des Dämmerlichts, in welchen die Sonne für kurze Zeit unter den Horizont sinkt, tauchten die nordische Landschaft in ein warmes, weiches Licht. Sie verzauberten unsere Sinne, verwirrten unser Zeitgefühl, beschenkten uns mit Energie. Jedenfalls waren sie zu kostbar zum Schlafen! Am Nordkap starteten wir eine neue Radetappe. Von hier aus folgten wir der Inselroute entlang der Westküste. Besonders beeindruckten uns die Steilküsten und Gletscherformationen der Insel Senja, die weißen Sandstrände von Andøya und die imposanten Steilhänge der Lofoten.
Wir reisten im bewährten Wechselmodus: mal ich auf dem Rad und Silvio im Expeditionsmobil, mal umgekehrt. Bevor wir nach fast 2.800 Radkilometern die alte Königstadt Trondheim erreichten, erlebten wir zum krönenden Abschluss, wie die Aurora Borealis den Nachthimmel in flackernd grünem Licht erstrahlen ließ. Polarlichter – ein Naturphänomen, so surreal, dass es süchtig macht … Fast wie das Reisen selbst! Mehr Infos: www.etraction-thetrip.com