Autobauer Ineos? Bei wem nun erste Fragezeichen aufblinken, muss sich seiner Wissenslücke nicht schämen. Ineos präsentiert sich als Newcomer in der Automobilbranche, kann als weltweit agierendes Fertigungs- und Chemieunternehmen stattliche 22.000 Angestellte in 183 Niederlassungen in 26 Ländern vorweisen. Die Idee, einen Offroader zu bauen, wurde vom Ineos-Vorsitzenden und Geländewagen-Fan Sir Jim Ratcliffe, wie sollte es anders sein, bei einem Bier in einem Londoner Pub geboren. Der Name des Pubs? The Grenadier. Womit die Frage nach der Herkunft des Namens auch geklärt ist.
Schon damals war Ratcliffe klar: Es sollte ein nutzenorientierter Offroader ohne unnötiges Chichi werden. Dass am Ende kein nüchtern auftretender Nutzesel à la Lada Niva das automotive Parkett betreten sollte, war schon damals erklärtes Ziel von Ratcliffe. Damit würde man im 21. Jahrhundert kaum Sympathien in der anspruchsvollen Offroadgemeinde sammeln – selbst wenn der Blick in erster Linie auf Performance und nicht Optik liegen sollte. Heute, nur wenige Jahre nach dem zukunftsweisenden Pub-Besuch, einer sechsmonatigen Machbarkeitsstudie und einem Investment von einigen 100 Millionen Euro, steht der Grenadier in den Startlöchern.
Optisch und technisch weit vom Niva entfernt – aber, zumindest sein Äußeres, doch eng an den Defender angelehnt. Dazu Jim Ratcliffe persönlich: „Ich bin ein großer Bewunderer des alten Land Rover Defender und habe enormen Respekt vor seiner Geländekompetenz. Unser neuer Offroader wurde von ihm inspiriert. Er teilt zwar den Defender-Geist, wird aber ein großer Fortschritt im Vergleich zu den vergangenen Modellen sein. Der Wagen wird keine Replik des Defenders – aber dessen Philosophie widerspiegeln.“
Um den Grenadier qualitativ auf ein anderes Level zu heben, übernahm Ineos 2020 das Mercedes-Benz Werk in Hambach – die Entwicklung stemmten die Ingenieure im engen Schulterschluss mit dem offroaderfahrenen Team von Magna Steyr. Kurzum: ein Projekt, bei dem britisches Design mit deutscher Ingenieurskunst verschmolzen ist. Schon in frühen Entwicklungsphasen zeigte sich: Es wird keine Abkehr vom Leiterrahmen geben. Im Gegenteil: Mit bis zu vier Millimeter starken Wänden präsentiert sich dieser als robustes Herzstück der Konstruktion, die Karosserie ist – wie beim Defender – aus Aluminium.
Der Fokus war klar definiert: Der Grenadier soll härteste Belastungen im Gelände aushalten, dazu gehört eben auch, jeglichen Bergeversuch – ob aktiv oder passiv – schadenfrei zu überstehen. Zudem sollten möglichst wenige elektronische Steuergeräte an Bord sein, wo immer möglich, wurde der Fokus auf analoge mechanische Systeme gesetzt. Und im Schadensfall? Hier soll bestmögliche Wartungsfreundlichkeit die Reparatur erleichtern.
Praxistests konnten erste Erfahrungen beisteuern. 130 Grenadier wühlten sich auf Testfahrten durch anspruchsvolles Geläuf, waren bei unterschiedlichsten klimatischen Bedingungen in 15 Ländern unterwegs. Daten aus über 1,8 Millionen Kilometern füllten die Datenlogger, wertvoll für weitere Optimierungen. Aktuell bietet Ineos den Grenadier mit Permanentallrad als Station Wagon und als zweisitzigen Utility Wagon an. Ein Doppelkabiner mit Ladefläche – quasi ein Pick-up – könnte folgen, das hängt vom Kundeninteresse ab.
Dass beim Grenadier mit Liebe zum Detail entwickelt wurde, offenbart der Blick auf ein paar Features: das bequeme Fahrergestühl mit sinnvollem Seitenhalt von Recaro etwa, die im Verhältnis 30 zu 70 geteilten Hecktüren oder die „subtilere“ Zweithupe, die ein dezentes Warnsignal an Radfahrer oder Fußgänger absetzt, ohne diese allzu ernsthaft aufzuschrecken. Chef-Designer Top Ecuyer bringt es diesbezüglich treffend auf den Punkt: „Wir haben jeden Quadratmillimeter berücksichtigt.“ So bietet Ineos den Grenadier auch schon werkseitig mit vielen interessanten Optionen an, die sich Offroad-Kunden sonst aufwendig im Zubehörmarkt zusammensuchen mussten.
Die 3,0-Liter-Motoren, wahlweise Diesel oder Benziner, liefert BMW, der Diesel leistet stattliche 249 PS mit ebenso überzeugenden 550 Nm Drehmoment. Die Gänge wechselt ausschließlich ein Automatikgetriebe, kombiniert mit einem Untersetzungsgetriebe für steile Auf- und Abfahrten. „Wir sind davon überzeugt, dass ein Automatikgetriebe die beste Option für erfahrene Automobilfans wie auch für weniger geübte Fahrer ist“, erläutert Job Zwollo, Projektmanager Konstruktion.
Wartungsarme Starrachsen von Nutzfahrzeugspezialist Carraro kombinierten die Konstrukteure mit einem Multi-Link-Aufhängungssystem mit getrennten Eibach-Schraubenfedern und ZF-Stoßdämpfern, um ein Maximum an Traktion und Verschränkung zu garantieren. Ein sperrbares Mittendifferenzial kommt schon im Serien-Setup, Sperren für Vorder- und Hinterachse hält der Ausstattungskatalog bereit.
Ein Blick in den Konfigurator: Die optionalen Differenzialsperren für Vorder- und Hinterachse sind für Weltreisende ein Muss, der Baukasten offeriert in Sachen Reifen 17- beziehungsweise 18-Zoll-Rundlinge in zwei Bereifungsoptionen. Hier sind die 17-Zoll-Stahlräder mit BFGoodrich AT-Reifen sicherlich eine gute Wahl. Auch Schnorchel, Rockslider, Heckleiter und eine integrierte Seilwinde gibt’s auf Wunsch gleich ab Werk.
Wer wünscht, setzt im Konfigurator Häkchen beim Safari-Fenster, zwei Ausstellfenster über den Fahrersitzen. Strapazierfähiger Gummiboden und ebenso robuste Sitzbezüge werden bei Offroadern eher im Fokus stehen als Teppich und edle Lederausstattung, ein bisschen Nappaleder für Lenkrad und Handbremsgriff, ein zentrales Ablagefach sowie Zurrösen im Kofferraum sollten als Aufhübschung des Innenraums reichen.
Kompass mit Höhenmesser, Campingtisch, alles möglich, der 12,3-Zoll-Touchscreen ist im Basispreis schon inkludiert – er zeigt neben üblichen Multimedia-Spielereien auch Reifendruck sowie Fahrzeugneigung und bietet einen interessanten Roadbook-Modus. LED-Scheinwerfer plus Hilfsleuchten im Kühlergrill gibt’s serienmäßig, Unterfahrschutz und Schutz für den Tank, Bleche für Diffs, Ölwanne und Getriebe optional.
Wo man preislich bei den 4×4 Fahrzeugen von Ineos landet? 65.890 Euro werden als Basispreis für den als Nutzfahrzeug zulassungsfähigen Zweisitzer mit viel Ladekapazität aufgerufen, der mehr auf Fahrkomfort ausgelegte Fünfsitzer startet bei 75.230 Euro. Ausgeliefert würde unser Grenadier ab sofort bei einem der aktuell etwa 14 Händler in Deutschland. www.ineosgrenadier.com
Infobox
4×4 Camper: Herr Hartmann, auf den ersten Blick ähnelt der Grenadier doch sehr dem Defender. Und auf den zweiten?
Klaus Hartmann: Der Grenadier ist ein komplett neu entwickelter Geländewagen, der angetreten ist, um neue Benchmarks in puncto Offroad-Fähigkeiten zu setzen und gleichzeitig alle Euro-Normen, beispielsweise beim Fußgängerschutz, zu erfüllen.
4×4 Camper: Form follows function? Also musste sich die Optik sehr deutlich der Funktion unterordnen?
Klaus Hartmann: Exakt. Und das bringt uns auch zur ersten Frage zurück. Auch wer völlig neue Benchmarks setzen möchte, kommt um die klassische Form eines solchen Fahrzeugs nicht herum. Der Wunsch nach optimiertem Böschungs- und Rampenwinkel, bestmöglicher Wattiefe und Wendigkeit diktieren geradezu die Formgebung. Kurzum: Der Boxy-Shape ist erforderlich bei einem als verlässliches Arbeitsgerät ausgelegten Geländewagen.
4×4 Camper: Welche Rolle könnte der Grenadier als Basis für ein Weltreisefahrzeug spielen, beispielsweise mit Dachzelt oder leichter Kabine?
Klaus Hartmann: Eine sehr große Rolle. Wir versuchen es Overlandern so einfach wie irgend möglich zu machen, ihren Grenadier zu individualisieren. Wir verlegen etliche Leerkabel im Fahrzeug, viele Schalter im Dachhimmel sind nicht belegt. Die Nachrüstung und Bedienung von Zubehör werden somit massiv erleichtert. Auch die statische Dachlast von 450 Kilogramm setzt ein klares Signal. Das ist doppelt so viel, wie bei der G-Klasse. Eine Chance als Fahrzeug für Overlander? Unbedingt, immerhin ist der Wettbewerb fast weggestorben.
4×4 Camper: Für größere Wohnkabinen wäre ein Zweitürer mit längerer Ladefläche optimal. Darf man darauf hoffen?
Klaus Hartmann: Wir planen derzeit schon einen Pick-up mit 130er-Radstand. Erst einmal viertürig – ähnlich dem langen Defender. Doch mit Blick in die Zukunft – ein zweitüriger Pick-up wäre sicherlich eine interessante Option. Wir werden sehen.
4×4 Camper: Unsere Leser sind weltweit unterwegs. Wie garantiert Ineos die Ersatzteilversorgung?
Klaus Hartmann: Wir stellen die Ersatzteilversorgung auf zwei tragende Säulen. Zum einen wird es eine zentrale Ersatzteillagerung auf allen Kontinenten geben. Zudem übernehmen ausgewählte Händler Reparaturen und Service. Parallel installieren wir eine globale Partnerschaft mit ausgewählten und zertifizierten Vertretungen des Bosch-Car-Services. Dies garantiert uns eine sehr engmaschige Netzdichte. Weltweit.
4×4 Camper: Preislich startet der Grenadier bei 59.000 Euro. Welche Ausstattung bekommt der Kunde im Basis-Setup, die vielleicht nicht klassenüblich ist?
Klaus Hartmann: Differenzialsperre in der Mitte, Sechs-Zylinder- Motoren, ZF-Automatikgetriebe, LED-Lichter sowie der Leiterrahmen, das sind schon umfassende und attraktive Offroad-Fähigkeiten bereits im Einstiegsmodell.
4×4 Camper: Hand aufs Herz: Teile, Platinen, Stecker – kaum etwas wird aktuell rechtzeitig geliefert. Wann können in Deutschland die ersten Fahrzeuge an Kunden übergeben werden?
Klaus Hartmann: In der Tat, die Lieferketten sind aktuell eine Herausforderung. Wir sind aber sehr zuversichtlich, mit der Produktion im dritten Quartal zu starten und die ersten Fahrzeuge in Deutschland und Europa noch dieses Jahr ausliefern zu können.
4×4 Camper: Ein paar abschließende Worte…
Klaus Hartmann: Ich bin sicher, dass sich der Grenadier unter Fernreisenden einen festen Platz sichern wird. Einen Geländewagen dieses Formats gibt es aktuell keinen zweiten. Unser „Open-source-Konzept“ macht zudem die Individualisierung sehr einfach.